Die Rondos – Backnangs legendäre Schleuderbrettakrobaten.

April 2023

 


Von Wolfgang Schaal

 
Eigentlich wollte ich in den letzten Wintermonaten in meinen Regalen so richtig Ordnung schaffen und ausmisten. Dabei fielen mir ein paar alte Sportfotos auf, die es wert waren, nochmals genauer hinzuschauen. Echte Raritäten, war so mein erster Gedanke. Aber einfach nur wegräumen und womöglich vergessen? Zu schade. Bald wird sich wohl niemand mehr an die alten Geschichten der Backnanger Schleuderbrettakrobaten erinnern – waren so meine Gedankenfetzen. Diese Geschichte muss unbedingt schriftlich festgehalten werden. Also hab ich mich hingesetzt und geschrieben.

Falls jemand nicht weiß: Ein Schleuderbrett ist eigentlich ein langes Holzbrett, in der Mitte gelagert, wie eine Art Wippe. Vorne steht ein Sprungturm, hinten auf dem Brett stehend ein mutiger Mensch, dieser konzentriert sich, gibt ein Kommando und wartet bis ein Springer mit dosierter „Wucht“ herabspringt und den Akrobaten nach oben katapultiert. So in der Theorie. In der Praxis dauert es sehr, sehr lange, bis ein sehenswerter „Flug“ präsentiert werden kann. Leichtsinn und Unachtsamkeit haben schwerwiegende Folgen für die Gesundheit. Eine riesige Portion Mut, Können und Körperbeherrschung muss man schon mitbringen, wenn man diesen Sport ausüben will – so wie die „Rondos“, Backnangs legendäre Schleuderbrettgruppe.

 

Ich selbst kannte die Rondos nur aus Erzählungen und war sehr intensiv beim Turnverein in Backnang eingespannt, beherrschte einen Salto aus fast jeder Lage. Mein Freund und Trainer Theo Heinrich hat mir in meiner Jugend alles beigebracht. Krönung meines turnerischen Könnens war dann schließlich eine Vorführung mit Doppelminitrampolin und Turntisch 1975 beim Backnanger Straßenfest. Damals war der Marktplatz noch gerammelt voll. Der lachende und grölende Menschenteppich hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben - ein voller Erfolg.

Das blieb dem Chef der Rondos, Otto Gier nicht verborgen. Er fragte mich nach meinem Auftritt, ob ich nicht Interesse hätte, bei den Backnanger „Schleuderbrettlern“, mitzumachen. Ich bat um etwas Bedenkzeit, aber schon nach dem ersten Probetraining war für mich klar – die Rondos sind von nun an mein sportliches Zuhause.

Allerdings hatte ich noch keine Ahnung, in welch legendärer Gesellschaft ich mich befand.

Der nachfolgende kleine Auszug aus der geschichtlichen Entwicklung der Rondos kann nur bruchstückhaft das Wirken und den immensen Erfolg dieser grandiosen Schleuderbrettgruppe aufzeigen.

Deshalb greife ich speziell ihre Entwicklung ab 1955 heraus, um diese waghalsigen Vorführungen für die Leser, die sie vielleicht noch erleben durften, in die Erinnerung zurückzuholen.

 

… Zum wiederholten Male wurde im Oktober 1956 in der Backnanger Stadthalle eine Deutsche Meisterschaft der Kraftsportler ausgetragen.

Einer der bekanntesten Sportreporter dieser Zeit, Hans Saile, war vom Auftritt der Rondos so begeistert, dass er sich zu diesen Zeilen hinreißen ließ:

 

„Inzwischen war die Uhr auf ihrer Rundreise kurz vor Mitternacht angelangt. Aber nicht ein Besucher hatte vorher die überfüllte Halle verlassen. Denn jeder wollte die „Fliegenden Backnanger“ sehen, die Schleuderbrettakrobaten, die weithin bekannten „Fünf Rondos“. Ihr Auftritt vollzog sich im Stil Weltklasseartisten im Varieté am Broadway, Fernsehen, Wochenschauen und ein Heer von Fotografen verbrauchte eine Unmenge von Zelluloid, als ob dieser Stoff so billig wäre wie Senf.

Vier junge Männer und in ihrer Mitte ein blasses 17jähriges Mädchen, in schwarz-blauen Kostümen nicht allzu auffällig gekleidet, sprangen gemessen auf die Bühne. Mit der Ruhe von Berufsartisten, die ihrer Sache sicher sind und weder auf ein Knixchen, noch auf eine lachende Maske angewiesen sind, arbeiten die fünf Rondos am Schleuderbrett. Jeder Salto saß exakt, jeder Sprung aufs Schleuderbrett wirkte wie ein Kanonenschlag. Das ganze Programm strahlte Ruhe und Gewissheit bezwungener Gefährlichkeit aus. Atemlos starrten 1500 Augenpaare in die Kuppel des Saales, als nur wenige Zentimeter unter der ihr unberührt ihr Licht ausstrahlenden Lampe der 18jährige Horst Sachs die rasende Fahrt seine drei- und vierfachen Salti nach unten einleitete. Und tiefe Seufzer entwichen den gespannt Dabeisitzenden, als die rötlich-blonde Klara im Salto den Weg in den hochstehenden Sessel fand.

Der Schlussbeifall war eine Ovation.

Für den Mut und das außergewöhnliche Können, das im Kunstkraftsport seinesgleichen sucht, gaben die Kampfrichter 56,31 Punkte. Die sicherte den Backnangern die sechste Deutsche Meisterschaft, wurde aber ihrem wirklichen Wert nicht gerecht.

Den todesmutigen Flügen der „Fünf Rondos“ kann mit einem sportlichen Bewertungsschema nicht mehr gerecht erden. Sie haben die Grenze des Sports hinter sich gelassen und sind weit in die gefährliche Dimension der Artistik vorgestoßen.

Hut ab vor Kurt Freimann, Otto Gier, Ernst Heinz und den waghalsigen „Fliegern“ Klara Widmer und Horst Sachs.“

 

Diese Laudatio machte die Rondos aus Backnang weit über den Sport hinaus in der gesamten Bundesrepublik bekannt. Immer mehr Organisatoren sportlicher und gesellschaftlicher Großveranstaltungen wollten von nun an diese mutigen Akrobaten in ihrem Programm präsentieren.

Der erste Fernsehauftritt war schließlich kaum zu vermeiden. Die Rondos durften in der Fernsehsendung „Sieben Wünsche“, moderiert von der Stimme des SDR Heinz Kilian, ihr Können zeigen. Eine Livesendung, 1956 um 20:30 Uhr, während der besten Sendezeit, war in Backnang der absolute Straßenfeger. Vor einem Millionenpublikum präsentierten sich die Backnanger Akrobaten. Die Stuttgarter Zeitung schrieb damals: „Viele deutsche Künstler werden die Kunst des „Verkaufens“ vor der Fernsehkamera noch lernen müssen, die „Fünf Rondos“ beherrschen sie bereits.“ Danach wurde diese Ausstrahlung zur besten Unterhaltungssendung des Jahres 1956 gekürt.

Was die Zuschauer allerdings nicht wissen konnten – Horst Sachs (Strickle), damals bester Flieger aller Zeiten, brach sich bei der heißen Probe den Unterarm und wurde einen Tag vor der Ausstrahlung im Krankenhaus versorgt. An eine Absage des Fernsehauftritts dachte natürlich niemand. Rechtzeitig vor der Livesendung wurde „Strickle“ mit Blaulicht und Martinshorn zum Auftritt abgeliefert. Er konnte alle seine

Tricks zeigen – außer seinem Flug-Handstand auf Kurt Freimann. 

Immer häufiger meldeten sich Künstleragenturen, dennoch übte aber jeder dieser waghalsigen Akrobaten noch einen ganz normalen Beruf aus. Eine damals sehr prominente Illustrierte berichtete über jedes Mitglied der Akrobaten in einer ausführlichen Reportage unter dem Motto: „Und abends - HEPP“. Die Homestory „Wirbelwind nach Feierabend“ fand in der Zeit des Wirtschaftswunders reißenden Absatz.

 

Weit über 100 Auftritte im Jahr katapultierten sie selbst zu den „bekannten Stars“. Auf Sportpressefesten u.A. in Kiel, Hamburg, Bremen. Berlin, Köln, Frankfurt, Stuttgart und München lernten sie herausragende Sportler der damaligen Zeit kennen: Max Schmeling, Fritz Walter, Armin Harry u.v.m.

Bei einem Wahlkampfauftakt der SPD, am 14. August 1965, gab es nach ihrem Auftritt vor über 25 000 Zuschauern einen nicht enden wollenden Beifallssturm mit Standing Ovations. Willi Brand und Helmut Schmidt gratulierten persönlich zum großen Erfolg.

 

1963 flatterte ein sehr verlockendes Angebot vom Zirkus Knie, der in ganz Deutschland mit immer ausgebuchtem Zelt unterwegs war, auf den Tisch. Leider mussten sie ablehnen, denn laufende Verträge waren zu erfüllen.

1964 – das wohl spektakulärste Angebot: Eine Japantournee anlässlich der Olympiade. Im Rahmen der Olympischen Spiele beabsichtigte der deutsche Sportbund mit einem umfangreichen Auftrittsspektakel durch Japan mit bundesdeutschen Spitzengruppen für Deutschland zu werben. Berufliche Gründe verhinderten auch hier leider die Teilnahme.

 

Allerdings ist der Beruf so erfolgreicher Akrobaten kein Honigschlecken. An was sehr viele Zuschauer nicht denken, sind die Umstände hinter den Kulissen. Einmal waren die Rondos Stargäste bei der Abschlussgala beim Welt-Ärzte-Kongress in Meran – natürlich wie fast immer als Schlussnummer. Nachdem der Vorhang gefallen war, musste zügig das gesamte Equipment in den VW-Bus verladen werden, es war 3:00 Uhr früh! Um 16:00 Uhr war aber schon wieder die Musikprobe in der 850 km entfernten Dortmunder Westfalenhalle angesagt und nur Otto Gier und Horst Sachs waren im Besitz einer Fahrerlaubnis, um die zwölfstündige Fahrt ohne Halt nach Dortmund zu absolvieren.

Um 15:00 Uhr angekommen, auspacken, aufbauen, 16:00 Uhr Musikprobe und ab 20:00 Uhr topfit auf der Bühne stehen, nach Programmende gegen 01:30 Uhr 4-5 Stunden Heimreise nach Backnang antreten, um pünktlich zur Arbeit zu erscheinen.

 

1968 war dann Schluss – aber zum Glück nur bis 1975. Der umtriebige Otto Gier war so vom Akrobatenvirus befallen, dass er es ohne viel Überredungskunst geschafft hat, Host Sachs und Kurt Freimann zum Weitermachen für weitere zwei Jahre zu überreden. Schließlich stießen ich, Wolfgang Schaal als Flieger und Winfried Adolph als Springer zur Truppe. Ich konnte mir in dieser Zeit noch ein richtig großes Stück Kuchen vom Bühnenleben einverleiben. Einer der schönsten und spektakulärsten Auftritte auf Wunsch der Stadtverwaltung war die Jubiläumsveranstaltung: 25 Jahre Backnang-Annonay. Ein grandioser Auftritt der Rondos und der Buarts brachte das Zirkuszelt zum Kochen. Unbeschreiblicher Applaus war unser Lohn!

Was auch hier niemand wusste: Bevor Horst Sachs seinen gefährlichsten Flug, schon auf dem Schleuderbrett stehend, vor sich hatte, war die Stromversorgung kurz vor dem Zusammenbruch. Einem umsichtigen französischen Elektriker war es zu verdanken, dass die Flugshow nicht abgebrochen werden musste – er hat einfach die Sicherungen festgehalten.

Viele Auftritte folgten nun mit neuer Besetzung. Die hochtalentierte Andrea Brauns und der Münsterländer Ludwig Wesselmann komplettierten wieder das Team, mit dem noch zwei weitere Deutsche Meistertitel errungen wurden: Titel 10 und 11. Man könnte also sagen, die Rondos gewannen den letzten Meistertitel der Geschichte und sind somit dauerhaft der amtierende Deutsche Meister der Sparte Schleuderbrett. Leider verließen uns Andrea und Winfried. Ein herber Verlust.

 

 

 

Von nun an konzentrierten wir uns auf die Zweitnummer der Rondos: „Die Buarts“. Diese lustige Schleuderbrettnummer war aber nicht zu unterschätzen. Hier gab es Komik und Akrobatik gepaart in höchster Vollendung. Bei großen Veranstaltungen waren wir immer gern gesehene Gäste. Allein während der Karnevalskampagne 1985 hatten wir innerhalb von fünf Wochen 22 Auftritte. Das Hansatheater in Hamburg wollte uns unbedingt für das Weihnachtsprogramm verpflichten – ein Varieté-Theater mit Millionenumsatz – allerdings fällt in solchen Häusern die Bezahlung minimalistisch gering aus!

Die Buarts, in der Besetzung Armin Pfitzenmaier, Michael Sauer und Wolfgang Schaal sorgten 1995 beim Auftritt im Kongress-Saal der Mainzer Rheingoldhalle für Furore. Rolf Braun, damaliger Conferencier verpflichtete uns umgehend für seine ZDF-Sendung 1996: „Die Narren sind los“. Ein bleibendes Erlebnis.

Vor den Kameramännern konnte der Stelzensalto nicht oft genug geprobt werden. Nach gefühlten 19 Salti auf Stelzen für die Aufnahmecrew war ich dann schon so platt, dass ich mich weigerte, weitere Kraft zu vergeuden. Schließlich benötigte ich noch ein paar Körner für die Hauptaufzeichnung am nächsten Tag. Als ich den schweren Unfall im Dezember 2010 bei „Wetten dass...?“ sah, habe ich mir so meine Gedanken gemacht.

Weil ich aber nach wie vor an das Comeback der Gruppe „Rondos“ glaubte, startete ich mit Hilfe der Backnanger Kreiszeitung einen Aufruf mit viel Resonanz. Mit Roland und Markus Matena, Jana Diederich, Olga Teufel, Basti Schneider, Sven Erhard, Peter Bartl, Elmar Kellner und Denis Sauer durfte ich noch bei vielen Veranstaltungen gemeinsame, tolle Auftritte miterleben. Verletzungen und berufliches Weiterkommen sorgten leider nach vielen Jahren für ein natürliches Ausscheiden – schade.

 

Geblieben sind bis heute Moritz Geyer aus Backnang und Jakob Fischer aus Pleidelsheim, zwei grandiose Flieger und Springer, die für sich, auch unter dem Namen „Rondos“ eine Zweiernummer einstudiert haben, die ihresgleichen sucht. Zusammenarbeit in Perfektion mit akrobatischen Höchstleistungen zeichnet diese zwei Alleskönner aus. Ohne Verletzungspech, hoffentlich noch sehr lange.

 

Übrigens: Backnangs erste Amateurakrobaten waren 1928 „Die zwei Buarts“ – Karl und Wilhelm Traub – von rückwärts gelesen: Buart(s). Das 100jährige Jubiläum steht an!

 

 

 


Quellen:

Backnanger Jahrbuch 2003

Gespräche mit Otto Gier

Gedächtnisprotokoll